Es ist Frühling in Akaroa. Die Morgensonne taucht den Himmel über dem kleinen Dorf Rockville in ein warmes Goldgelb. Bis auf das sanfte Wiegen der Blätter im Wind und heiterem Vogelgesang herrscht in den ungepflasterten Gassen verschlafene Stille. Die Hauptstraße, die Rockville mit Akaroas Hauptstadt Enkydia verbindet, schlängelt sich ebenso ruhig durch das hügelige Land.
Plötzlich setzt hektisches Vogelgezwitscher ein – dann fliehen die Vögel aus ihren Verstecken in den Baumkronen. Auf der Hauptstraße rauscht unter immer lauter werdendem Hufgedonner eine bräunliche Wolke aus aufgewirbeltem Staub heran. In allen Richtungen verlassen Menschen ihre hölzernen Hütten und rennen auf den Dorfplatz. Die meisten von Ihnen sind einfache Bauern. Verunsicherung zeichnet ihre Gesichter. Mit jeder Sekunde, die vergeht, verblasst die surreale Form der herandonnernden Staubwolke und gibt den Blick nach und nach auf immer konkreter werdende Silhouetten von Reitern frei. Sie sind mit Schwertern und Armbrüsten bewaffnet. Das Fell ihrer Pferde ist pechschwarz. Die Reiter selbst sind nur schwer von einander zu unterscheiden. Sie tragen schwere, silbrig glänzende Plattenrüstungen, auf deren Brustpartie das kaiserliche Wappen eingraviert ist. Nur einer der Reiter hebt sich deutlich davon ab. Er reitet einen muskulösen, weißen Schimmel. Seine Rüstung ist durch einen königsblauen Umhang und goldene Verzierungen ergänzt. Seine hellgrauen Haare verraten zudem, dass er deutlich älter ist, als seine Gefolgsleute. In der Dorfmitte angekommen, spricht er mit seiner tiefen, rauchigen Stimme zu den versammelten Bürgern von Rockville:
„Bürger von Rockville! Im Namen des großen Bewahrers gebe Ich demjenigen törichten Bauernpack, eine letzte Chance hervorzutreten und seine Schuld gegenüber dem Kaiserreich zu begleichen! Wählt Ihr zu schweigen – so soll die Gemeinschaft die Buße des Einen tragen!“
Es herrscht Stille. Vereinzelt drehen sich Dorfbewohner fragend um. Die Meisten aber schauen mit starrem, bettelnden Blick in Richtung des Reiters. Niemand tritt hervor.
„So sei es. Brennt das Dorf nieder!“, befiehlt der alte Herr in überzeugter, lauter Stimmlage seinen Gefolgsleuten. Sofort stecken die Reiter ihre in Pech getränkten Bolzen in Flammen. Sie spannen ihre Armbrüste und feuern. Die brennenden Bolzen zischen durch die Luft. Die hölzernen Hütten von Rockville fangen sofort Feuer. Das Lodern der Flammen übertönt fast das Weinen der hilflos ihr Hab und Gut rettenden Dorfbewohner. „Der Gerechtigkeit ist Genüge getan!“ verlautbart der Grauhaarige, bevor er und seine Männer auf der Hauptstraße zurück in Richtung Enkydia reiten.
Als der Trupp zum Galopp ansetzt, steht plötzlich ein kleiner Junge vor ihnen auf der Straße. Seine strubbeligen, dunkelbraunen Haare wehen im Wind. Die umherfliegende Asche hat sich überall auf seine aufgerissene Kleidung gelegt. Der Dreck an den Knien und in seinem Gesicht ist allerdings schon älter. Seine dunklen, braunen Augen schauen den Reitern selbstbewusst entgegen. Er hält ein verkratztes Holzschwert in seiner Rechten Hand.
„Hey! An mir kommst du nicht vorbei – frag meinen Freund Linus, der verliert jeden Kampf gegen mich!“, ruft der Junge den kaiserlichen Truppen entgegen.
„Pass auf wie du zu unserem Kaiser sprichst, Bürschlein! Sonst bringen wir dir Manieren bei!“, entgegnet einer der Reiter und blickt dabei stolz auf den grauhaarigen Reiter.
„Ruhe!“, brüllt wiederum der Kaiser. „Wie heißt du kleiner Ritter? Wo sind deine Eltern?“
„Nichts da! Sag mir erst wie du heißt! Immerhin bist du es doch, der mit einem Schwert bedroht wird!“, stichelt der Junge.
„Jetzt reichts! Ich lasse nicht zu, dass der Kaiser von einer kleinen Pestbeule wie dir vorgeführt wird! Du wirst dir deine Hose noch braun fürchten!“ erbost sich einer der Reiter, bevor er vom Kaiser in seinem Wortfall unterbrochen wird: „Schweig! Dieser Bursche hat mehr Courage als Ihr sechs zusammen. Ich bin Kaan – Der Kaiser von Akaroa. Verrätst du mir jetzt dein Namen kleiner Mann?“ „Ich bin Darian.“, antwortet der Junge selbstbewusst. Als er über seine Eltern sprechen möchte fängt er plötzlich an zu schluchzen: „Meine Eltern sind…ich bin schon lange allein.“. „Na…bei sonem frechen Bengel…!“ lästert der Reiter wieder und erntet böse Blicke und Kopfschütteln von seinen Mitstreitern. „Ein guter Kaiser weiß, wann er auf sein Herz hören muss. Meines sagt mir gerade, dass dieser kleine Junge eines Tages Großes für unser Reich vollbringen kann. Er mag kein edles Blut haben – aber einen umso edleres Gemüt!“ erklärt der Kaiser und hebt den Jungen mit einem starken Hieb auf sein Pferd. „Ich werde für dich sorgen wie für meinen eigenen Sohn.“ flüstert der Kaiser Darian ins Ohr. Dann reitet der Trupp davon.
Es sind einige Jahre vergangen. Darian ist mitlerweile 14 Jahre alt und lebt im Kaiserpalast. Seine neuen, edlen Kleider lassen keine Rückschlüsse auf seine Herkunft mehr zu. Einzig sein hölzernes Spielzeugschwert baumelt immernoch an seinem Gürtel. Gemeinsam mit Nazar, dem nur wenige Jahre älteren Prinz von Akaroa und Sohn von Kaiser Kaan, kniet sich Darian auf das kaiserliche Wappen, das in den Boden des Thronsaals eingelassen ist und liest mit stolzer Stimme die Inschrift des Wappens:
„Im Lichte des Bewahrers möge erblühen was tugendhaft ist und verdorren was ehrlos ist. Möge der Bewahrer uns die Kraft geben mit weiser Hand die Gerechten zu adeln und die Ungerechten zu tadeln.“.
Nazars Mutter, Karda, unterbricht die beiden Jungen und reicht ihnen in Rücksicht auf die – wie sie sagt: „Klirrende Kälte am heutigen Morgen!” wärmende Kleidungsstücke. Darian bekommt eines von Nazars dunkelblauen Gewändern überreicht. Nazar zieht sich eine Weste aus grauem Wolfsfell über. Dann stehen die Jungen auf und laufen durch die Gassen von Enkydia, in denen sie imaginäre Banditen jagen.
Um sie herum ragen dicht aneinander gebaute Gebäude aus Sandstein in den Himmel. Keines hat weniger als zwei Stockwerke. Der gotische Baustil und der helle, fast weiße Stein lassen selbst die Wohnhäuser mächtig wirken. Plötzlich stehen sie in einer menschenleeren Gasse vor dem Tor, welches das Adelsviertel vom Hafen trennt.
Es ist ein großes, mit gräulich glitzerndem Stahl verstärktes Holztor. Nazar bleibt abrupt stehen: „Darian, warte! Das Hafenviertel ist zu gefährlich. Ich kann das Gesindel doch schon durch das Tor hören…Mutter hat mich immer vor den besoffenen Seeleuten gewarnt…“, mahnt Nazar.
Darian bleibt ebenfalls stehen. Im Gegensatz zu Nazar, strahlt sein Blick allerdings Neugier aus. Seine weit geöffneten Augen untersuchen das meterhohe Tor ganz genau. Er geht näher heran. Nazar streckt seinen rechten Arm nach vorne aus, als wolle er Darian zurückhalten. Der allerdings wirft ihm nur einen frechen, auffordernden Blick über seine Schulter zurück: „Komm schon, was soll schon passieren?“ ruft er Nazar zu und ergänzt provozierend, „jetzt steh nicht so blöd da rum! Ein Prinz, der Angst vor Seeleuten hat…hoch lebe das Kaiserreich!“. Dann schiebt Darian das massive Tor ganz langsam auf. Ein lautes, blechernes Quietschen hallt durch die Gasse, als das Tor über den Boden schrammt. Noch ein dumpfes Klingeln der schweren Ketten des Schließmechanismus, dann ist das Tor vollends geöffnet und die Jungen betreten das Hafenviertel.
Ein leichter Nebel liegt über den hölzernen Stegen. Sie glänzen leicht von dem Salzwasser, dass die Gischt der Wellen immer wieder auf die Anleger peitscht. Es ist leise Musik zu hören. Eine unharmonische Mischung aus Akustikgitarren, Mundharmonika und Akkordion. Zwischendurch ist hallt es immer wieder lautes, raues Gelächter aus dem Hintergrund. Darian und Nazar gehen in kleinen, vorsichtigen Schritten vorwärts. Ein älterer, bärtiger Mann mit nur noch wenigen, struppigen grauen Flusen auf dem Kopf torkelt an ihnen vorbei. Wenig später übergibt er sich in ein Fass, dass ein Seemann gerade von einem der im Hafen liegenden Segelschiffe geladen hatte. Immer wieder ernten die Jungen irritierte Blicke von vorbeikommenden Matrosen – einer abgewrackter als der Andere. Teils wird ihnen vor die Füße gespuckt.
Darian und Nazar biegen in eine kleine Seitengasse. Das geschäftige Treiben an der Pier ist hier nur leise im Hintergrund zu hören. Vor ihnen liegt eine seichte Bucht. Nur wenige Wellen rollen mit leisem Rauschen sanft auf den steinigen Strand. Überall liegen Flaschen, abgebrannte Zigarren, angeschwemmte Fässer und anderer Müll.
Darian nimmt zwei der herumliegenden Flaschen auf, reißt das Etikett ab und kritzelt mit einem Stück Kohle ein Paar Zeilen auf die Rückseite. Dann gibt er das Papier in die Flasche und legt sie vorsichtig in die Brandung.
„Für ein Boot ist das ein bisschen klein meinst du nicht ?“, meckert Nazar mit grantiger Stimme.„Boot…pft. Kennst du nicht die Sage über die Beschützer der Hoffnungen?“, fragt Darian verdutzt und fährt fort als er bemerkt, dass Nazar ihm nur einen ungläubigen Blick entgegen wirft: „Die Seelen von Seeleuten, die ihr Leben auf dem Meer gelassen haben, gehen eine magische Verbindung mit der See ein. Sie beschützen ihre Familie, die sich immer noch jeden Tag in die Fängen der launischen See begibt. Übergibst du der See nun einen Wunsch entscheiden Sie, ob deine Absicht ehrenhaft genug ist um in Erfüllung zu gehen. Gleitet die Botschaft bis zum Horizont, so wird der Wunsch erfüllt. Verschlingen Sie allerdings die Wellen des Ozeans, wird genau das Gegenteil eintreten. So ists` zumindest in der Geschichte.“ flüstert Darian mit ruhiger, besonnener Stimme.
Darian hält Nazar die zweite Flasche entgegen. Nazar zögert kurz – nimmt die Flasche aber dann doch und wiederholt die Prozedur, mit der Darian zuvor seine Botschaft auf Reisen geschickt hatte. Beide Wünsche treiben auf der See bis sie außer Sichtweite sind.
Darians Wunsch: „Ich wünsche mir ein Akaroa, in dem Menschen nach ihren Taten – nicht nach ihrer Herkunft beurteilt werden.“
Nazars Wunsch: „Wenn ich Kaiser bin, will ich die Macht haben die Gerechten zu beschützen – und die Ungerechten zu verachten.“
Darian und Nazar gucken noch einige Minuten lang auf das ruhige Meer, ehe sie sich umdrehen und zurück zu den Anlegestellen gehen. Nazar schlägt ein Rennen vor: „Wer zuerst zurück beim Tor ist!“, ruft er Darian zu und rennt los. Er hat schnell einige Meter Vorsprung. Plötzlich greift eine düstere, in eine schwarze Kutte gehüllte Männergestalt nach Darian. Er versucht noch zur Seite zu springen, während er erschrocken und außer Atem nach Luft schnappt. Doch er kann sich nicht aus den Fängen des Fremden lösen. Nazar hat unterdessen das Tor erreicht. Er sieht gerade noch, wie Darian versucht sich aus der Umklammerung zu lösen, aber in eine dunkle Seitengasse gezogen wird. Seine Augen sind weit aufgerissen. Ein starrer verängstigter Blick unterstreicht die verzweifelten Hilfeschreie, die Darian unter vorgehaltener Hand versucht abzusetzen. Verzweifelt versucht er nach seinem Holzschwert zu greifen. Doch als er es gerade zu fassen bekommt, rutscht es ihm aus der Hand und bleibt auf den schlammigen Planken der Docks liegen. Dann ist Darian im Dunkel verschwunden.
Nazar steht regungslos da. Er schaut mit bangem Blick auf das geschäftige Treiben des Hafenviertels. Er ruft mehrmals Darians Namen, ohne eine Antwort zu bekommen. Auch sonstige Lebenszeichen sind unter dem ständigen Stimmen- und Musikwirrwarr nicht auszumachen. Dann hebt Nazar Darians Holzschwert auf rennt zurück zum Palast. Er stolpert mehrmals fast. Seine Augen sind voller Tränen. Durch sein verängstigtes Schluchzen zieht er auf dem Weg zum Kaiserdom die Blicke vieler Passanten auf sich. Leises, fragendes Gemurmel ist zu hören.