Als Kind versteckte ich mich gerne in dem hübsch verzierten Garderobenschränkchen im Flur und beobachtete Mama, wie sie mit kleinen, eleganten Handbewegungen die Gegenstände um sich herum nach ihrem Willen tanzen ließ. Fast wie eine Choreographin ihr Künstlerensemble. Bei dem kleinsten Geräusch jedoch fand das Schauspiel ein abruptes Ende. Die nur wenige Augenblicke zuvor noch lebendig herumwirbelnden Haushaltsutensilien lagen plötzlich leblos am Boden, als wäre das fantastische Spektakel nur ein Traum gewesen. Im diesen Momenten würde meist mein Vater durch die Tür kommen, polternd darüber, wie immer mehr dieser widerwertigen Hexen in unserem beschaulichen Örtchen entdeckt werden würden. HIER. BEI UNS. Meine Mutter verstand es gut in diesen Momenten in freundlicher Zustimmung äußerst glaubhaft zu nicken. Manche Wahrheiten sind zu schmerzhaft, oder zu gefährlich, um ausgesprochen zu werden.
Ich lernte schnell, es ihr gleich zu tun. Zum Beispiel wenn die Ladies im Örtchen sichtlich beeindruckt – aber nicht ohne ein Quäntchen neidischer Abscheu – darüber tratschten, wie um Himmels Willen meine Mama immer soo viel an nur einem einzigen Tag erledigt bekäme. Das ginge doch gar nicht? Sie wären doch mindestens genauso fleißig und hätten, anders als wir, sogar ein Auto! Ich würde mich hüten unser Geheimnis zu verraten, ich wusste es besser. Das galt auch für das letzte Mal, als ich mein Zimmer selbst aufräumte. Also als ich, ganz klassisch, Gegenstände noch mit den eigenen Händen (!) von der einen Ecke meines Zimmers in eine andere getragen habe. Furchtbar mühsam, ganz schlimm. Seit mein, damals etwa zwölfjähriges, Ich endlich herausgefunden hatte, wie man Spielsachen gemütlich vom Sessel aus, mit Nichts weiter als der Kraft der eigenen Gedanken bewegen konnte, waren diese Zeiten gottlob vorbei. Ich kann mich noch gut an den schockierten Gesichtsausdruck von Mama erinnern, einer Mischung aus Stolz, Entsetzen und Verzweiflung, als sie eines Tages plötzlich in mein Zimmer hereinplatzte und die umherfliegen Gegenstände bemerkte. Ich hatte ein einziges Mal nicht aufgepasst, nicht auf die Geräusche außerhalb meines kleinen, magischen Reiches gehört und war aufgeflogen.
In den Unterton der Tratschereien im Dorf mischte sich Mistrauen, Skepsis und Abscheu. Wie schnell die Ladies ihre geheuchelte Freundlichkeit gegen offene Missgunst eintauschten erinnerte mich ironischer Weise an die Leichtigkeit, mit der ich Dank der Magie die ungeliebten Aufgaben des Alltags bewältigen konnte. Vom nächsten Jagdausflug kam mein Vater nicht zurück – meine Mama erkläre mir es sei ein Bär gewesen – doch ich wusste es besser. Kurz darauf zogen wir um. Sechs Monate später erneut. Und erneut. Die Sorgenfalten auf Mamas Stirn wurden immer tiefer und es war wenig überraschend, dass sie mir nach dem fünften Umzug in nur zwei Jahren eindringlich klar machte, dass wir unsere Magie nicht mehr einsetzen durften. Niemals! Unter keinen Umständen! Sie selbst, so erklärte sie mir, sei zuletzt zu bequem geworden, zu unvorsichtig. Die Menschen würden nicht verstehen wer, oder vielmehr, was wir seien. Es wäre zu riskant, zu gefährlich, ihnen die Wahrheit zu sagen.
Es folgten einige ruhigere Jahre in einer alten, klapprigen, aber irgendwie auch gemütlichen Hütte am Rande eines kleinen Fischerortes. Mama und ich hielten uns so gut es ging fern von der Stadt und heraus aus den Belangen der anderen Familien. Es war ein einsames Leben. Aber wenigstens Eines, ohne Tratschereien und Fragen, von denen wir es besser wussten, als sie ehrlich zu beantworten.
Einige Jahre später
Mama war alt geworden. Und auch ich hatte mich verändert. Ich war erwachsener und – neugieriger. Vermehrte Ausflüge in die Stadt, um Medizin für Mama zu besorgen, nährten meinen Hunger auf all die Abenteuer des Lebens, die mir unser Leben in abgeschiedener Zweisamkeit nicht bieten konnte. Als Mama einige Monate später starb, brach für mich eine Welt zusammen. Plötzlich war ich alleine, die Stille in der kleinen Hütte wurde unerträglich. Ich wurde Zeit für mich ein neues Kapitel in meinem Leben zu schreiben. Eines, in dem ich mich nicht weiter verstecken müsste, in dem ich LEBEN würde.
An einem heißen Sommerabend, an dem es ohnehin viel zu warm war um ins Bett zu gehen, verließ ich zum ersten Mal aus reiner Neugier und ohne festes Ziel den sicheren, vertrauten Umkreis der Hütte. Nach einiger Zeit des Umherwanderns durch die schöne Natur der sumpfigen Landschaft hörte ich Stimmen und Gelächter. Ich musste nachsehen woher sie kamen – zu lange war es her, dass ich solch Fröhlichkeit gehört hatte – ihr Klang zog mich förmlich magisch an. Das Lachen gehörte zwei jungen Männern, etwa in meinem Alter, die in einem kleinen Bach badeten. Was folgte, waren Stunden, in denen ich mich so lebendig gefühlt habe, wie seit Jahren nicht. Diesen Sommer folgten noch viele dieser Nächte. Ich empfand Lebensfreude, hatte Spaß und fühlte mich endlich normal – und wurde unvorsichtig.
Eines Abends im Bach rief ich die Jungs zu mir. Wir kannten uns mittlerweile gut, sie hatten mir gezeigt wie es ist Freunde zu haben – und ich wollte Ihnen etwas zurückgeben. In einem Moment des Übermuts verwandelte ich den kleinen, stillen Bachlauf auf magische Weise in einen gemütlich blubbernden Whirlpool. Ohne Mühen hob ich die größten, schönsten Steine aus der Tiefe an die Wasseroberfläche, um aus ihnen selbstgebaute Liegen zu bauen. Die Jungs liebten es. Doch ich hätte es besser wissen müssen.
Auf dem Heimweg hörte ich plötzlich Schritte. Sie kamen näher, wurden lauter und hatten etwas bösartiges an sich. Ihr energischer Rhythmus erinnerte mich sofort an das abfällige Getratsche der Ladies von Früher, das unaufhörlich wie Schüsse aus einem Maschinengewehr auf meine Mama und mich eingeprasselt war. Ein beißender Geruch riss mich aus meinen Erinnerungen zurück in die Realität. Mein kleines zu Hause stand in Flammen. Die Schritte, die mich verfolgt hatten, gehörten einem Mob wütender und wild fluchender Männer, die sich an dem abscheulichen Spektakel ergötzen wollten. Es waren die Väter der beiden Jungs, den ersten Menschen, denen ich seit vielen Jahren mein Vertrauen geschenkt hatte. Obwohl sie lange tot war, hörte ich die Stimme meiner Mama laut und klar in meinem Kopf, als stünde sie neben mir: „Du hättest es besser wissen müssen, mein Kind.“. Vermutlich hatte sie Recht. Doch, sagte ich mir, das hätten die wütenden Männer auch. So erschien es mir nicht sonderlich schlau in der Trockenheit des Hochsommers ein Haus am Stadtrand in Brand zu setzen. Noch dazu das einer Hexe. Bedarf es doch nur einen kleinen Funken und der ganze Ort stünde in Flammen.
Einige Jahre später wohne ich noch immer hier. Meine Hütte habe ich mit Steinen aus dem Fluss wieder aufgebaut. Auch einige Gebäude im Ort stehen wieder, die Wenigsten davon mit Muskelkraft errichtet. Man lässt uns hier in Ruhe und die Menschen erzählen sich fantastische Geschichten von der guten Hexe, die eigenhändig, aus dem Nichts, ein Dorf für Ihresgleichen errichtet hat. Sie wissen es natürlich besser. Doch manche Wahrheiten sind zu schmerzhaft, oder zu gefährlich, um ausgesprochen zu werden.